Die Corona-Odyssee. Sebastian Kummers unglaubliche Geschichte.

Sebastian Kummer

Der deutsche Wirtschaftsprofessor Sebastian Kummer erlebte die Corona-Krise allein auf einem Segelboot im Mittelmeer. Kein Land durfte er anlaufen, er versteckte sich wochenlang in Buchten vor der Küstenwache. Seine Odyssee dauerte 90 Tage.

Sebastian Kummer fühlt sich wie ein Pirat – und sieht mittlerweile auch so aus. Der Bart ist struppig, die schlohweißen Haare reichen bis auf seine Schultern, seine Haut ist braungebrannt und gegerbt von Salzwasser. Niemand, der den Einsiedler auf dem Katamaran beobachtet, würde ahnen, dass der hagere Mann in Schlabbershirt und Shorts, der mehrmals am Tag das Radio aufreißt und zu türkischen Poprhythmen ausgelassen alleine an Deck tanzt, im richtigen Leben Professor an der Wiener Wirtschaftsuniversität ist. Selbst einige Freunde, denen Kummer regelmäßig kurze Videos sendet, befürchten, dass der Leiter des Instituts für Logistik und Transport verrückt geworden ist. Aber was ist schon normal in diesen Tagen, in denen Corona die halbe Welt lahmlegt?

Es ist Anfang Mai und Kummer versteckt sich mit seiner Lagoon 46 bereits seit sechs Wochen in abgelegenen Buchten vor der Küstenwache in der Türkei. Der Professor ist zum Outlaw geworden. Corona hat ihn dazu gemacht. Streng genommen ist er ein illegal Eingereister, auch wenn er nie einen Fuß auf türkischen Boden gesetzt hat. Aber er liegt mit seinem Schiff in den Hoheitsgewässern von Erdogans Reich, schutzsuchend vor Wind und Wetter. Aus Griechenland wurde er mit vorgehaltener Maschinenpistole vertrieben – trotz gültiger Papiere für die Passage, trotz deutschem Pass. Wissend, dass er auch in der Türkei nicht einreisen kann. Kummer nennt seine wechselnden Zufluchtsorte sein „Niemandsland“.

Die Blu
Der Lagoon 46 Kat „Blu“ ©Kummer

Die Odyssee des 57-Jährigen begann Mitte Februar an der französischen Atlantikküste. Der Plan war, die „Blu“ in die Türkei zu überführen. In mehreren Etappen und mit wechselnden Crews wollte der erfahrene Segler, der als junger Mann Deutschland bei Segelweltmeisterschaften vertrat, die 2800 Seemeilen ins östliche Mittelmeer segeln, im türkischen Göcek das Schiff bei einer Charterbasis abliefern und einen anderen Katamaran nach Kroatien bringen.

Bei eisigen Temperaturen brach die Crew am 21. Februar in Les Sables-d´Olonne auf. Da ahnte der Professor noch nicht, dass seine Reise ihn an die Grenzen der Belastbarkeit bringen wird. Schon gar nicht ahnte er, dass aus seinem Segeltörn eine 90-tägige Odyssee werden wird. Auch hatte er keine Vorstellung davon, dass er sein Abenteuer als Einhandsegler bestreiten und wochenlang allein auf dem Mittelmeer ausharren muss, weil kein Land ihn einreisen lässt. Und das alles wegen eines Virus, das am anderen Ende der Welt ausgebrochen ist. In Wuhan, China.

Von Lockdowns erwischt

Die erste Etappe verlief nach Plan. Kummer und Crew querten die Biskaya, segelten entlang der iberischen Halbinsel und passierten die Straße von Gibraltar. In Malaga wechselte die Crew zum ersten – und auch letzten – Mal. Kurz bevor die „Blu“ in einem Sturm Mallorca erreichte, erfuhren die Segler, dass Italien die Grenzen dicht gemacht hatte. Der nächste Wechsel auf Sizilien konnte also nicht stattfinden. Kummer beschloß, die Reise alleine fortzusetzen, damit seine Crew sicher nach Hause fliegen konnte.

Das Mittelmeer ist selbst für erfahrene Segler wie Kummer, der den Atlantik passiert und im Pazifik gesegelt ist, eine Herausforderung – vor allem als Einhandsegler. Besonders im Frühjahr sind die Stürme unberechenbar und die Schifffahrtsstraßen stark frequentiert – von Frachtern und Fischern. In die Nächten schlief Kummer nie länger als 15 Minuten, er checkte die Segel, die Position und mögliche Gefahren im Viertelstundentakt. Dann ruhte er wieder ein paar Minuten. Der strenge Schlaf-Wach-Rhythmus rettete ihn einmal vor einer Kollision.

Als er nach einigen Tagen fernab jeder Küste und Mobilfunkempfang Griechenland erreichte, war die Welt an Land eine andere geworden. Die meisten Länder hatten ihre Grenzen dicht gemacht, die Häfen geschlossen. Die ganze Mittelmeerküste war für Kummer zur No-go-Area geworden. Nur die Türkei, sein Ziel, war noch offen.

Kummer hatte ein „Sailing Permit“ für Griechenland, also eine Genehmigung, die Hoheitsgewässer zu kreuzen. Er war erschöpft. Der Schlafmangel, die kraftzehrenden Segelwechsel, der stete Kampf mit Wind, Wetter und Wellen forderten ihren Tribut. In abgelegenen Buchten wollte Kummer ankern und sich von den Strapazen ausruhen, wenigstens eine Nacht ausschlafen oder Stürme abwettern.

Doch die griechische Küstenwache ließ das nicht zu. In einer Bucht gewährte sie ihm nicht einmal ein paar Stunden Rast. Sie forderte ihn auf, mindestens zwei Seemeilen Abstand von der Küste zu halten. Doch da ist das Meer mehrere hundert Meter tief, unmöglich zu ankern. Kummer segelte weiter. Müde, erschöpft und ausgelaugt. Die nächste Hiobsbotschaft ließ nicht lange auf sich warten. Auch die Türkei, das Ziel seiner langen Reise, hatte nun die Grenzen geschlossen. Noch hoffte Kummer, trotzdem einreisen zu können, denn die „Blu“ segelte unter türkischer Flagge. Aber von Tag zu Tag wurde die Hoffnung trüber.

Auf der Insel Tilos wollte sich der Professor endlich von den Strapazen erholen, wenigstens eine Nacht am Stück in einer abgelegenen Bucht schlafen. Doch erneut wurde er von der griechische Küstenwache aufgebracht. Mit vorgehaltener Maschinenpistole und der Androhung von Gefängnis musste er den Anker lichten und spät abends Kurs auf die Türkei nehmen. Für Kummer fühlte es sich an wie ein Tritt in den Hintern, der ihn als EU-Bürger aus dem Geltungsbereich der Union hinaus kickte. Er berief sich auf die „safe passage rule“, ein internationales Gesetz, das Seeleuten in Not einen sicheren Hafen garantiert. Doch in den chaotischen Corona-Zeiten schien das Gesetz außer Kraft gesetzt.
In der Türkei bewahrheitete sich dann Kummers schlimmste Befürchtung: Er durfte nicht einreisen!

 

Sonnenuntergang Blu
Allein auf dem Mittelmeer ©Kummer

Versteck im Niemansland

Und so versteckt er sich in einsamen Buchten, seinem „Niemandsland“. Anfang Mai sind es bereits sechs Wochen. Es ist die Zeit, die Kummer die „schönste Quarantäne der Welt“ nennt. Er meistert sie mit einer großen Portion Optimismus und viel Selbstironie. Schließlich erlebt er den Lockdown dort, wo andere sonst Urlaub machen. Und wenn es einen Ort gibt, der sicher vor dem Virus ist, dann ist es sein Boot fernab jeder Zivilisation. Kummer arbeitet für die Uni am Laptop, schwimmt im mittlerweile warmen Mittelmeer, treibt Sport und lebt gesund. Die Vorräte an Bord reichen noch für einige Wochen, nur mit Wasser und Gas muss er sparsam haushalten.

Immer wieder schöpft der Segler Hoffnung, bald in der Türkei einchecken zu können. Immer wieder wird er enttäuscht. Die vielen Gespräche, die im Hintergrund laufen, scheitern in letzter Minute. Es ist zum Verzweifeln.

Nach einigen Wochen im „Niemandsland“ ist Kummer davon überzeugt, dass die türkische Küstenwache von ihm weiß. Von türkischen Freunden erfährt er, dass er geduldet wird. Sie versorgen ihn auch mit Gemüse und Früchten, in kleinen Boote bringen sie Wasser und Gas. Mittlerweile liegt Kummer nur noch drei Seemeilen von seinem Ziel entfernt. Und doch ist es unerreichbar für ihn. Die Einwohner der Insel, vor der er sich zuletzt versteckt, und die Fischer sind freundlich zu dem Einsiedler auf seinem Boot, bieten Hilfe an. Kummer fehlt es an nichts. Er weiß aber auch, dass in diesen verrückten Zeiten fast täglich neue Corona-Anordnungen getroffen werden. Das, was heute gilt, kann morgen schon obsolet sein. Wenn er heute geduldet wird, muss das noch lange nicht für morgen gelten.

Auch weiß Kummer, dass er ein Präzedenzfall ist. Wenn er in der Türkei trotz Einreiseverbots einchecken darf, dann wollen das auch andere. Kummer ist mittlerweile so etwas wie ein Medienstar. Zeitungen, Magazine und Fernsehsender berichten über den gestrandeten Professor. „Die Medienberichte haben geholfen, Aufmerksamkeit zu schaffen und damit Druck aufzubauen, um eine Lösung zu finden“, ist Kummer im Nachhinein überzeugt.

Trick oder Hilfe?

Mitte April nimmt ein österreichisch-türkischer Geschäftsmann über die Medien Kontakt zu Kummer auf. Er sagt, er könne Kummer helfen. Zunächst ist Kummer skeptisch, glaubt an einen Trick, um seinen Standort herauszufinden. Er weiß, dass Katamarane wie die „Blu“ im Wert von einer halben Million Euro ganz oben auf der Liste der „Yachtmafia“ stehen. Doch was hat er schon zu verlieren?

Nach einigen Telefonaten wächst das Vertrauen. Die Lösungsansätze scheinen realistisch, zumal sich nun auch die offiziellen türkischen Stellen um eine Lösung bemühen. Doch die ist kompliziert. Es ist die Zeit, als die Türkei um deutsche Touristen buhlt, sobald die Einreisebeschränkungen fallen. Doch Berlin stellt sich quer. Der deutsche Segler, der sich irgendwo in türkischen Gewässern versteckt, wird somit zum Politikum. Viele Stellen müssen zusammenarbeiten, es bedarf einer Koordination. Nachdem Kummer die offiziell notwendigen Erklärungen abgibt, schreibt die deutsche Botschaft, anscheinend widerwillig, eine offizielle Note an das türkische Außenministerium. Das wiederum informiert das Innenministerium, das entsprechende Informationen an die lokalen Stellen gibt.

Über die genauen Hintergründe, wie es zu diesem Arrangement kommen konnte, haben alle Beteiligten Stillschweigen vereinbart. Kummer lächelt süffisant. „Es hatte ein bisschen was von einer Geheimdienstoperation“. Und selbst, wenn er etwas sagen wollte: Kummer wurde bei all den Verhandlungen außen vor gelassen. „Um mich nicht zu belasten“, sagt er.

Es ist der 6. Mai, als Kummer erfährt, dass er am nächsten Tag in der Türkei einchecken darf. Freude mischt sich mit Wehmut. Wird seine Odyssee wirklich bald vorbei sein? Kummer hat Angst. Angst davor, dass er wieder einmal enttäuscht wird. Schon mehrmals hat er sich auf den Tag X vorbereitet, dann zerplatzte der Traum wie eine Seifenblase. „Das kostet so viel Energie“, sagt Kummer. Auch hat er Respekt vor dem, was vor ihm liegt.

Nonstop muss er allein einen anderen Katamaran von Göcek nach Kroatien segeln. Acht bis neun Tage und Nächte ununterbrochen auf See, schlafen und wachen in kurzen Intervallen, der Wind stürmisch und oft gegen an. Auch darf Kummer nicht die kürzeste Route wählen. Die griechischen Hoheitsgewässer sind für ihn tabu. Also muss er Rhodos im Westen und Kreta im Norden liegen lassen, sprich Kurs zunächst auf Libyen legen. Am 7. Mai, es ist ein Donnerstag, verlässt Kummer tatsächlich sein Niemandsland.

Am Zollpier wird Kummer mit Blumen und Süßigkeiten begrüßt. „Das hat Stil“, sagt der Professor. Das ganze Prozedere dauert nur eineinhalb Stunden, dann nimmt Kummer auf dem neuen Boot Kurs auf Kroatien. Er ist bereits südlich von Kreta, als der Albtraum beginnt: Es ist 5.30 Uhr als der Wind in Böen auf 40 Knoten zulegt. Kummer ist müde. Und gestresst. Die griechische Küstenwache hat ihn mehrfach angefunkt, obwohl er sich außerhalb der Zwölfmeilenzone gehalten hat. Seit dem Vorfall auf Tilos ist Kummer etwas paranoid.

Als er das Vorsegel verkleinern will, verklemmt sich die Reffleine. Beim Versuch sie zu lösen, gerät seine linke Hand zwischen Rolle und Schot. Höllische Schmerzen schießen durch Kummers Körper. Er ist gefangen, kann seine Hand nicht befreien. Der Autopilot steuert stoisch weiter. Kummer versucht ruhig zu bleiben, seine Lage zu analysieren. Aber sie scheint aussichtslos. Er kann sich nur befreien, wenn er die Klemme der Reffleine löst, doch dann wird seine Hand wegen des Drucks im Segel weiter in die Rolle gezogen, vielleicht sogar abgerissen.

Kummer wird schwarz vor Augen, er hat das Gefühl ohnmächtig zu werden. „Dann sterbe ich hier“, sagt er sich. Also setzt er alles auf eine Karte. Er muss die Klemme lösen – und mit der rechten Hand, die linke befreien. Irgendwie. Nach einem kurzen Moment legt er die Klemme um. Er weiß im Nachhinein nicht wie, aber er schafft es, die Hand blitzschnell zu befreien, bevor die Leine mit rund einer Tonne Kraft sie zerfetzt hätte. Er wankt in den Salon, kramt aus der Tiefkühltruhe gefrorenen Thunfisch, schlägt ihn in ein Küchentuch ein und kühlt die Wunde. Er liegt auf dem Sofa, ermattet und erschöpft. Die Hand brennt höllisch. „Ich habe drei Mal „Gott, wir loben Dich“ gesungen“, sagt Kummer. Die Hand ist gequetscht, aber Kummer kann sie bewegen. Die Finger bluten, aber die Schnittwunden sind nicht tief.

„Ab diesem Zeitpunkt war ich wirklich ein Einhandsegler“, lacht Kummer heute. Nach insgesamt 90 Tagen auf See, vollkommen erschöpft aber überglücklich, erreicht Kummer Kroatien. Zwei Meilen vor Beograd flaggt er über die Toppen. Am Bug wehen traditionell die Flaggen des Alphabets, Zahlen und Hilfsstander, achtern die Flaggen der Länder, die Kummer in dem vergangenen Vierteljahr passiert hat. Als Dank für die Hilfe der österreichischen, deutschen, türkischen und kroatischen Freunde und als ein Zeichen dafür, dass die Segelsaison am Mittelmeer wieder eröffnet ist.

Der Journalist und Liveabord Jens Brambusch und Sebastian Kummer haben über diese Geschichte ein spannendes Buch geschrieben. Jens Brambusch lebt in der Türkei an Bord einer Moody 425 und hat uns ein Interview gegeben. Jens Brambusch ist gleichzeitig Autor dieses Artikels.

 

Sebastian Kummer
Glückliches Ende einer Odysee ©Kummer

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